Ich sehe, dass ich nichts sehe
Zu Pfingsten, am 16. Mai im Jahr 1921, entdeckte der Nordstrander Landwirt Andreas Busch die Kulturspuren von Rungholt und begann damit, die von ihm entdeckten Funde zu kartieren. Seitdem geht von diesem Gebiet eine große Faszination aus und es war wiederholt Gegenstand von wissenschaftlichen Untersuchungen und vielfältigen Publikationen. Seit Sommer 2013 wurde das Gebiet von Teams der Universitäten Mainz und Kiel umfassend untersucht. Nun wurde kürzlich ein spektakulärer Bericht veröffentlicht (Wilken et al., 2024), der auch die Position der legendären Rungholter Kirche enthielt. Anlass für die Nordstrander Nationalpark Wattführerin Cornelia Kost sich ein Bild vor Ort zu machen.
In den letzten 11 Jahren wurde das Rungholtgebiet systematisch großflächig und multimodal untersucht. Ziel war die Identifizierung mittelalterlicher archäologischer Kulturreste, die jetzt noch im Watt erhalten sind. Dabei kamen zum Beispiel die magnetische Radiometrie, die elektromagnetische Induktion und marineseismische Reflexionsprofile zur Anwendung. Erstmals war es den Forschenden möglich, eine Rekonstruktion des mit dem Namen Rungholt verbundenen Siedlungsgebietes mittels geoarchäologischer Methoden vorzunehmen. Dabei wurde die beeindruckende Fläche von 10 Quadratkilometern untersucht. Hinter der bisherigen Arbeit stecken 235 Hektar Magnetfeldmessung, 30 Hektar Reflexionsprofile, zwei Hektar elektromagnetische Induktionsmessungen und circa 150 Kernbohrungen.
Insgesamt wurden vier verschiedene Siedlungsgebiete entdeckt, die alle dem Bereich Rungholt zugeordnet wurden. Es wurden 64 Waffen entdeckt. Das sind doppelt so viele Warften, als die 28 Warften und ca. 100 Sodenbrunnen, die Andreas Busch bis 1972 entdeckte (Henningsen, 2002). Die bei diesen Untersuchungen gemachten Funde wurden mittels Radiocarbon Methode und Dendrochronologie datiert und reichen übereinstimmen vom 12. bis in das 14. Jahrhundert. Damit steht dem Flutjahr der ersten Mandränke 1362 kein wissenschaftlicher Beweis entgegen.
Die Warften sind durch ein Entwässerungsnetz aus langen Gräben, die häufig mit Torf verfüllt wurden, gekennzeichnet. Die Gräben bilden schmale Feldparzellen, die Hufen genannt werden. Auf ihnen wurde im wesentlichen Viehzucht, Ackerbau und Salztorfgewinnung betrieben. Darauf begründete sich der Wohlstand der Rungholter, der dem Koog immerhin Handel mit den Hansestädten, bis nach Flandern und weiter entfernteren Gebieten ermöglichte.
Schon früh wurden an dem von Andreas Buchs Niedam bezeichneten Deichgebiet die Reste des Siels lokalisiert und dort ein Hafen vermutet. Bisher gab es dafür keine archäologischen Befunde. Denn es wurden keine auf Schiffe hindeutenden Artefakte, wie zum Beispiel Schiffsnägel entdeckt.
Besondere Aufmerksamkeit bekam einen Bereich, der in den 70er Jahren besonders sorgfältig durch das Archäologische Landesamt untersucht worden war und von dem immerhin eine Bleistiftszeichnung existierte, die auf zahlreiche Warften mit Gebäuden hinwies (Henningsen, 2000). Dem ALSH war das Gelände so wichtig, dass dort zwei Messpfähle dauerhaft im Wattboden verankert wurden. In unmittelbarer Nähe dieses Gebietes vermutete Robert Brauer den Standort der eigentlichen Rungholter Kirchwarft, da er vor Ort mehrere menschliche Schädel gefunden hatte. Diese deutete auf ein Gräberfeld hin und war ein Indiz für eine Kirchwarft mit Friedhof. Jürgen Newig maß diese Position auf einer Wattwanderung mit Robert Brauer mit einem frühen GPS Gerät ein. Sie galt bis dahin als die beste Spur zur Rungholter Kirche.
Heute befindet sich das Gebiet mitten im Fahrwasser in einem großen Priel und liegt zum Teil frei. Es ist leider der Erosion durch den Priel besonders stark ausgesetzt. Obwohl man sich mit diesem Gebiet besonders große Mühe gab, tatsächlich wurden zahlreiche Warften identifiziert, wurde nicht der geringste Hinweis auf die dort vermutete Kirchwarft gefunden. Das bedeutete für die weiteren Untersuchungen, das Rungholtgebiet musste in einem größeren Umfang untersucht werden, wenn es denn die Hauptkirche der Edomsharde auf Rungholt geben sollte. Denn auf die von Andreas Busch bereits identifizierte Kirchwarft ohne Fething, hätte bestenfalls eine Kapelle gepasst.
Tatsächlich brachten diese weitgreifende Untersuchung den Durchbruch. Die spektakulären Ergebnisse wurden bis vor kurzem sorgfältig vor der Öffentlichkeit verborgen und erst vor wenigen Wochen hat das Forscherteam um Dr. Hannah Hadler ihrer Ergebnisse in einer Fachzeitschrift publiziert (Wilken et al., 2024). Damit liegt nun eine umfassende Bestandsaufnahme des Rungholtgebietes vor und viele der in den vergangenen Jahren gemachten Funde konnten in einem Gesamtbild eingeordnet werden.
Es gibt Hinweise auf eine mittelalterliche Besiedlung aus der Zeit um 800 n.Chr. (Kühn, 2023). Bisher ging man davon aus, dass der Ort Rungholt erst ab 1100 n.Chr. großflächig besiedelt worden ist. Möglicherweise im Rahmen einer groß angelegten Besiedlungsmaßnahme durch den dänischen König Waldemar II (1170-1241) (Newig & Haupenthal, 2016). Dann hätte Rungholt mehr als 200 Jahren Siedlungsgeschichte. Die Forscher wagten sich an eine Schätzung der Einwohner Rungholts, nachdem das archäologische Landesamt von 800 Menschen gesprochen hatte und Andreas Busch von 1.500 bis 2.000 Menschen, was immerhin damals eine vergleichbare Ansiedlung wie Kiel ergeben hätte, schätzt die Forschergruppe etwa 1.000 bis 1.300 ständige Einwohner für die bisher rekonstruierten und nachgewiesenen 64 Warften.
Am spannendsten war die Entdeckung der Kirche. Grundlage für diese Vermutung spielt ein rechteckiges Fundament, das im Osten eine halbrunde Apsis hatte und eine Grösse von circa 15 m Breite und 40 Meter Länge aufwies. Der Fund im Watt wurde identifiziert als Rest einer spätromanischen Kirche mit einer halbrunden Apsis im Osten. Das Gebäude zählen die Forschenden zu den wichtigsten Kirchen Nordfriesland in dieser Zeit.
Ein vergleichbares Gebäude wäre die Breklumer Kirche, damals die Hauptkirche der Nordergoesharde und ein Hinweis, dass die im Watt gefundenen Reste ebenfalls auf die Hauptkirche der Edomsharde hinweisen. Aus dem Baustil und den verwendeten Ziegelsteinen der Breklumer Kirche lässt sich auf einen Bau um 1200 schließen(Frömming, 2016). Die stattliche Kirche war ein reiner Ziegelbau, einheitlich im spätromanischen Stil erbaut und die Apsis hinter dem Altar zeigt noch die ursprüngliche romanische Wölbung. An der Nordseite des Kirchenschiffes finden sich sechs rundbogige Fenster; diese scheinen noch die ursprünglichen romanischen zu sein. Die ganze Anlage von Kirche, Kirchhof und Turm legen die Vermutung nahe, dass die Breklumer Kirche eine Art Wehrkirche gewesen ist. Die Ausrichtung der Kirche vom Eingang zum Kirchenschiff von West nach Ost symbolisiert den Weg vom Dunkel zum Licht der aufgehenden Sonne: „Jesus spricht: Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolgt, wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben (Joh 8.12)“.
Dieser Bericht war der Anlass, sich vor Ort einmal um zu schauen und Nationalparkwattführerin Cornelia Kost nutzte die Gelegenheit bei wunderbaren Sommerwetter sich die Situation beim Fundort der Rungholter Kirche einmal genauer anzusehen. Das Gelände liegt in unmittelbarer Nähe, im Nord-Osten der Hallig Südfall. Die Stelle ist völlig mit Seegras überwachsen und so sedimentiert, dass von den Kulturspuren nichts zu sehen ist und ohne Ortskenntnis nicht zu finden ist. Nur in den kleinen Prielen, die das Gelände durchziehen, im direkten Bereich der Kirche fanden sich einige wenige Kulturspuren, die typisch für menschliche Besiedlung sind. Dazu gehörten Teile von Klosterformat Steinen und ein kleines Stück rote, glasierte Importkeramik.
„Von den zuvor stattgefundenen wissenschaftlichen Untersuchungen ist nichts mehr zu sehen. Daran kann man erkennen, mit welcher Sorgfalt und Behutsamkeit die Eingriffe in die Natur vorgenommen werden und dass die modernen Untersuchungsmethoden überaus geeignet sind, den Naturraum und den Nationalpark in keiner Weise zu beeinträchtigen.“ so Cornelia Kost.
Die Nationalparkwattführerin nahm die Gelegenheit wahr und maß einige aktuelle Priel Verläufe ein, so dass eine genaue Karte des Geländes zur Verfügung steht und etwaige Besuchergruppen sicher durch das Wattgebiet geführt werden können.
Im Anschluss daran legte sie Heimatforscher Robert Brauer die Untersuchungen vor. Der nahm mit Erstaunen zur Kenntnis, dass damit seine Erkenntnisse zur Lage der Kirchwarft verworfen sind. Immerhin wurde die von ihm bezeichnete Stelle sehr gründlich untersucht, ohne einen Hinweis auf die Kirchwarft zu finden. „Die Lage der neu gefundenen Warften, wie an einer Perlenschnur, deuten auf einen Deich hin, in dessen Verlauf die Warften errichtet wurden,“ vermutet Robert Brauer nach einer ersten Analyse der veröffentlichten Daten.
Gerade die Deichverläufe würden Aufschluss über die genaue Lage des Rungholter Kooges geben. Das in dem großen Untersuchungsgebiet so wenig Deichspuren zu finden sind, kann ein Hinweis auf die Größe des Kooges sein. Ein Ergebnis muss ebenfalls als sicher festgestellt werden, die Details der Karte „Abriß von Rungholte“ von Johannes Mejer aus dem Jahr 1636 sind definitiv wissenschaftlich widerlegt.
Literatur
Egberts, L., & Schroor, M. (Hrsg.). (2018). Waddenland outstanding: History, landscape and cultural heritage of the Wadden Sea region. Amsterdam University Press.
Frömming, S. (2016). Ein kleiner Führer durch die Breklumer Kirche. Breklumer Print-Service.
Hadler, H., Vött, A., Newig, J., Emde, K., Finkler, C., Fischer, P., & Willershäuser, T. (2018). Geoarchaeological evidence of marshland destruction in the area of Rungholt, present-day Wadden Sea around Hallig Südfall (North Frisia, Germany), by the Grote Mandrenke in 1362 AD. Quaternary International, 473, 37–54. https://doi.org/10.1016/j.quaint.2017.09.013
Hadler, H., Wilken, D., Bäumler, S., Fischer, P., Rabbel, W., Willershäuser, T., Wunderlich, T., & Vött, A. (2022). The Trendermarsch polder (North Frisia, Germany)—Geophysical and geoarchaeological investigations of an anthropogenic medieval coastal landscape and its vulnerability against natural hazards. Geomorphology, 418, 108461. https://doi.org/10.1016/j.geomorph.2022.108461
Henningsen, H.-H. (2000). Rungholt: Der Weg in die Katastrophe ; Aufstieg, Blütezeit und Untergang eines bedeutenden mittelalterlichen Ortes in Nordfriesland. 2: Das Leben der Bewohner und ihre Einrichtungen, die Landschaft, der Aufstieg zu einem Handelsplatz, Rungholts Untergang, der heutige Zustand von Kulturspuren, der Mythos von Rungholt und ein Epilog: die Geschichte im Zeitraffer.
Henningsen, H.-H. (2002). Rungholt. 1: Die Entstehungsgeschichte Rungholts, seine Ortslage, heutige Kulturspuren im Wattenmeer und die Geschichte und Bedeutung der Hallig Südfall (2. Aufl). Druck- und Verlagsgesellschaft.
Kurzke, U. (2023, Mai 30). 10.000 Jahre in 60 Minuten. De Pellwormer, 20–21.
Newig, J., & Haupenthal, U. (Hrsg.). (2016). Rungholt: Rätselhaft und widersprüchlich. Husum.
Wilken, D., Hadler, H., Majchczack, B. S., Blankenfeldt, R., Auge, O., Bäumler, S., Bienen-Scholt, D., Ickerodt, U., Klooß, S., Reiß, A., Willershäuser, T., Rabbel, W., & Vött, A. (2024). The discovery of the church of Rungholt, a landmark for the drowned medieval landscapes of the Wadden Sea World Heritage. Scientific Reports, 14(1), 15576. https://doi.org/10.1038/s41598-024-66245-0
Wilken, D., Hadler, H., Wunderlich, T., Majchczack, B., Schwardt, M., Fediuk, A., Fischer, P., Willershäuser, T., Klooß, S., Vött, A., & Rabbel, W. (2022). Lost in the North Sea—Geophysical and geoarchaeological prospection of the Rungholt medieval dyke system (North Frisia, Germany). PLOS ONE, 17(4), e0265463. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0265463